19. June 2022

von Alexandra Lux

Lernen für die Zukunft

Was wird wirklich gebraucht?

Das ist immer wieder in Diskussionen um eine Veränderung des Bildungswesens die große Frage. Einig sind sich alle, dass die Zeiten sich verändert haben. So, wie Schulen heute allgemein unterrichten ist veraltet. Auch wenn kleine Veränderungen sichtbar sind, trägt die Bildungslandschaft der gesellschaftlichen Entwicklung nicht Rechnung.

Eigentlich bin ich müde, es immer wieder zu erwähnen. Ich ernte Zustimmung und dann die Aussage: „Ja, aber so ist es halt. Was können wir da schon ändern.“ Ich gestehe, diese Lethargie macht mich aggressiv. Genau das ist der Grund, dass nichts vorwärts geht. Denn dazu braucht es Mut, Tatendrang, Begeisterung und einen freien Blick in Undenkbares, ebenso eine gute Portion Willen zum Scheitern.

Inspiriert durch ein kurzes Interview im Bankspiegel, dem Magazin meiner Hausbank GLS-Bank, schreibe ich nun doch meine Gedanken dazu. Die beiden Interviewpartner (Annikki Schimrigk, Waldorflehrerin und Ärztin und Peter Spiegel, Zukunftsforscher und Autor) sprechen mir aus Herz und Seele.

Auf was sollen wir die Kinder heute vorbereiten?

Woher wissen wir, wie sich die Zukunft, die Zeit entwickelt. Wie sieht die Gegenwart aus, wenn sie erwachsen sind? Wir müssen nur zurückdenken, wie die Gegenwart unserer Schulzeit vor 10 bis 30 Jahren aussah. Woher wissen wir, welche Berufe sie ausüben werden? Wer heute gerne Autos repariert sieht sich ganz anderen Gegebenheiten ausgesetzt als ein Mechaniker vor 30 Jahren, oder auch vor nur 20 oder 10 Jahren. Wir sind uns alle einig, dass die technischen Möglichkeiten incl. der Digitalisierung sich immer schneller entwickelt. Auch das Weltwissen verdoppelt sich in immer kürzerer Zeit. Hinzu kommen die aktuellen Entwicklungen mit Globalisierung, Weltwirtschaft, Weltfrieden, Klimaproblematik. Es ist unmöglich zu wissen, was die Kinder in ihrer Zukunft in diesen Bereichen brauchen. Daher können wir sie im Wissensbereich eigentlich nur auf eine (von ihnen noch nicht mal erlebte) Vergangenheit vorbereiten. Natürlich gibt es gewisse Grundlagen, die unstrittig sind. Doch davon gibt es der Zeit zu viele!

Was also dann?

Peter Spiegel formuliert es wie folgt:
„Extrem an Wert gewinnen wird alles, was nicht digitalisiert und automatisiert werden kann, also die rein menschlichen Eigenschaften wie Kreativität, Vorstellungskraft, Intuition, Emotion und Ethik. Der Neurobiologe Gerald Hüther sagt: „Das zutiefst Menschliche zu entdecken, ist die zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts.“ Dazu gehört die Entwicklung von Kompetenzen wie Empathie, Storytelling, Kommunikation, systemisches Denken, auch Nachhaltigkeit.“

Genau diese Vorstellung hatte auch Jack Ma (Gründer der Alibaba-Group) 2018 beim WEF in Davos. Er gibt sogar einige Fächer vor, die wichtiger sind als Wissensvermittlung.
Annikki Schimrigk erlebt in der Waldorfschule Kooperation und lernen aus verschiedenen Perspektiven. Margret Rasfeld hat den Frei-Day initiert, an dem Kinder und Jugendliche sich außerhalb der Schule eigenen Aufgabenstellungen widmen können.

Ich bin der Meinung, dass all diese Softskills gar nicht in Fächern oder Unterrichtseinheiten alleine „unterrichtet“ werden können. Sie müssen gelebt werden. Hier sind die Lehrerinnen und Lehrer, alle Erwachsenen an der Schule das Vorbild. Das ist die erste Hürde.

Wie kann es umgesetzt werden?

Meiner Ansicht nach sind kleine individuelle Initiativen, wie es sie schon vielfältig gibt ein erster Schritt in Richtung Zukunft. Doch müssen sich auch Rahmenbedingungen ändern, denn sonst stoßen die einzelnen Vorreiter ständig an Grenzen. Dazu braucht es die Kraft der Menge. Ich sehe es wie Annikki Schimrigk es im Interview ausdrückt:

„Das Schulsystem muss sich ändern, freier werden. Eltern und Schüler*innen müssen sich dafür stark machen, sonst wird die Politik nicht reagieren.“

Peter Spiegel fügt hinzu:

„Das Allerwichtigste sind die Eltern. Die müssen umdenken, weil sie noch ihre alte Schulzeit im Kopf haben und meinen, es werden noch Noten gefordert.“

Dem möchte ich hinzufügen, dass Eltern in Sorge um die Zukunft ihrer Kinder leben. Sie wollen sie bestmöglich auf einen guten Abschluss vorbereitet wissen und verharren hierbei im Alten. Das ist bekannt. Doch die Zukunft ist unbekannt.

Die erste Aufgabe von Schulen, die sich auf den Weg machen ist, die Eltern ins Boot zu holen. Ihnen aufzuzeigen, was es bedeutet, Kinder auf die Zukunft vorzubereiten. Ihnen die Angst zu nehmen und sie ermutigen Vertrauen zu fassen. Maria Montessori geht davon aus, dass das Kind alles, was es für sein Leben braucht, bereits in sich trägt. Wir Erwachsenen haben die Aufgabe ihnen zu ermöglichen dieses Potenzial zu entfalten.

Unsere Aufgabe jetzt ist es, uns klar zu werden, was diese „zutiefst Menschliche“ ist, von dem Gerald Hüther spricht. Wie können wir die Forderungen nach Empathie, Kommunikation, systemischem Denken, Nachhaltigkeit, Kooperation, kritischem und unabhängigem Denken umsetzen? Vorher noch: haben wir diese Fähigkeiten überhaupt selbst?

Und das System?

Pädagoginnen und Pädagogen, Eltern, die Gesellschaft muss ihr Bild von Bildung ändern. Das System muss auf Freiheit und Vertrauen aufgebaut sein. Davon ist die verantwortliche Politik noch weit entfernt und meiner Wahrnehmung nach, entfernt sie sich davon in riesigen Schritten immer weiter. Schulleiter brauchen Freiheiten und Kompetenzen ihre Schulen standortgerecht zu verwalten. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Freiheit und Vertrauen, mit den Kindern die geforderten Kompetenzen zu entwickeln und zu erproben.

Das geht nicht mehr mit Reformen. Dazu braucht es einen radikalen Schnitt. Der für mich so aussieht: Wer im alten Rahmen bleiben will, kann dies tun. Schulen, die mutig Neues ausprobieren (auch Altes wie Waldorf, Montessori, Jena-Plan) bekommen Freiheit und Vertrauen. Eltern werden entscheiden, welche Möglichkeiten sie ihren Kindern geben. Es wird eine Übergangszeit geben, die nur so parallel laufen kann. Ehrliche Evaluation ohne Testerei der Schülerinnen und Schüler, jedoch mit objektiven und subjektiven Vergleichen begleitet diese Übergangsphase. Das Ende ist offen.

Nur so kann Neues entstehen. Im Bildungssektor und in der Gesellschaft.

„Im Kind liegt das Schicksal der Zukunft.“

Maria Montessori

Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir bei den Kindern beginnen. Das ist Montessoris Schlussfolgerung. Doch der wirkliche Beginn liegt bei uns, die wir Kinder in ihrer Entwicklung begleiten. Haben wir keine Vision der Zukunft und kein Vertrauen in ihr Schaffen und Sein, können wir auch nicht bei den Kindern beginnen.

Lasst uns zusammenarbeiten. Lasst uns mutig sein. Lasst uns klar und sichtbar werden. So sichtbar, dass die Politik nicht mehr anders kann, als die Veränderung mitzugehen.

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